„Deutschland ist in der Lage wieder Top-Platzierungen bei Olympischen Spielen zu holen. Definitiv, ja!“ Es sind ehrgeizige Worte und klare Vorstellungen, mit denen Hannes Vitense sein Amt als einer der beiden neuen deutschen Schwimm-Bundestrainer antritt. Seit Freitag bildet der Neckarsulmer Coach gemeinsam mit Magdeburgs Erfolgstrainer Bernd Berkhahn offiziell eine Doppelspitze, die die DSV-Nationalmannschaft zu den Olympischen Spielen 2020 führen soll.

Trainerwechsel im Sport haben oft den Zweck für eine Initialzündung zu sorgen, die leider in vielen Fällen allzu schnell verpufft. Doch nach dem Rücktritt von Henning Lambertz, der auf das „Chef“ vor dem „Bundestrainer" im Titel seiner Position viel Wert legte, wirkt der Übergang zu der neuen Führungsmannschaft, die Verantwortungen bewusst auf viele Schultern verteilen will, wie ein tatsächlicher Aufbruch. Vitense und Berkhahn vermitteln diese Stimmung direkt zu Beginn ihrer Amtszeit bei öffentlichen Auftritten, Interviews und in den Gesprächen mit Trainern immer wieder.

Das Ziel ist dabei nicht neu. „Das ist klar, wir wollen deutsche Schwimmer in die Weltspitze führen“, so Vitense. Doch der Weg dahin soll sich von den in der Vergangenheit im Vordergrund stehenden Ansätzen unterscheiden. Er führt weniger über Trainingskonzepte und Standortfragen sondern beginnt im Kopf der Athleten. „Es kommt immer darauf an, was der Athlet selbst will. Was formuliert er für sich selbst als Ziel? Ist das die Olympiateilnahme? Oder ist das das Finale und dort um eine Medaille mitzukämpfen? Das ist ein Prozess. Und dabei müssen die Athleten durch uns, durch den Deutschen Schwimm-Verband, unterstützt werden“, erklärt Vitense in einem ausführlichen Gespräch mit swimsportnews.

Der 36-Jährige ist der strategische Kopf im neuen Bundestrainergespann. Als „Teamcoach“ ist Vitense verantwortlich für die Ausrichtung der Nationalmannschaft, während „Teamchef“ Bernd Berkhahn die Führung bei internationalen Top-Events wie den bevorstehenden Schwimm-Weltmeisterschaften in Korea übernimmt. Seine Qualitäten im Aufbau von Strukturen hat Vitense in der Vergangenheit bereits bewiesen. Im Saarland stand er 13 Jahre lang am Beckenrand, davon acht Jahre als Landestrainer und führte zahlreiche Athleten in die nationale Spitze und zu internationalen Höhepunkten. Seit 2017 trainiert er mit vielen Ressourcen ausgestattet die Schwimmer in Neckarsulm. Im vergangenen Jahr holten mit Henning Mühlleitner, Fabian Schwingenschlögl und Annika Bruhn mehrere seiner Athleten EM-Medaillen für Deutschland. Nun soll Vitense sein Können auch auf nationaler Ebene anwenden.

Ein erster konkreter Schritt für den Aufbruch: Die Normzeiten und Vorgaben, über die sich die deutschen Schwimmer für die Saisonhöhepunkte des Jahres qualifizieren müssen, wurden grundlegend reformiert. Das hat den Effekt, dass die zuletzt von vielen als zu hart und wenig realistischen eingeschätzten Normen spürbar gesenkt wurden. Dabei betont Vitense, dass man den Blick nicht auf das richten will, was früher war. „Wir wollen uns vergleichen mit dem, was in der Welt passiert und nicht mit Gedanken oder Strategien aus der Vergangenheit“, erläutert er. „Es geht gar nicht so sehr um die Frage, sind die Normen leichter oder schwerer, sondern haben sie einen Anspruch zur Weltspitze. Und das müssen wir mit ‚Ja‘ beantworten. Andere Top-Nationen richten sich nach sehr ähnlichen Maßstäben“, meint Vitense und verweist zum Beispiel auf die immer wieder international vorn mitmischenden Niederländer.

Die neuen Normzeiten sollen eine Leistungssteigerung zum Top-Event hin ermöglichen und fordern. Sie orientieren sich unter anderem an Vorlaufplatz zwölf der zurückliegenden drei Meisterschaften auf Weltniveau (WM oder Olympia) und der Weltbestenliste der zurückliegenden drei Jahre. In der Vergangenheit wurde selbst zu den Europameisterschaften die Zeit herangezogen, mit der man sich auf Platz acht für das Finale der Olympischen Spiele 2016 qualifizierte. Ein stichtagsbezogenes singuläres Ergebnis. Die begründete Chance auf den Endlauf ist eine der Vorgaben, die auch der Deutsche Olympische Sportbund für die Entscheidung, wer bei Saisonhöhepunkten für Deutschland starten darf, immer wieder hervorhebt. Vitense sieht diesen Anspruch auch bei den neuen Normen gegeben. „Damit sollte man in den Halbfinals dabei sein können und realistisch im Bereich für eine Finalqualifikation liegen“, erklärt er, weist aber darauf hin, dass die Frage nach den Normzeiten nur ein kleiner Teil der neuen Strategie ist. „Die Normen erfahren natürlich, auch in der medialen Darstellung, eine große Aufmerksamkeit und da wird viel darüber diskutiert. Für uns sind sie ein Baustein in der Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft. Allerdings ist der Weg dahin, diese Normen zu erreichen und dann beim Saisonhöhepunkt topp abzuschneiden, aus unserer Sicht der deutlich wichtigere. Nicht die Norm ist entscheidend, sondern der Prozess, den der Sportler zusammen mit seinem Trainer und mit Unterstützung durch den Verband erarbeitet hat.“

Und dieser Prozess, so Vitense, müsse im Kopf der Athleten beginnen. Sie selbst sollen den Willen entwickeln, in die Weltspitze vorzustoßen und Ziele für sich zu formulieren. „Derjenige, der um eine Medaille kämpfen möchte, der orientiert sich nur daran. Der orientiert sich nicht an irgendeiner Norm, egal ob die jetzt auf Platz acht, zwölf oder 16 beruht.“ Der Gedanke hinter den neuen Normen und Qualifikationsrichtlinien geht weit über die Vorgabe von bestimmten Zeiten hinaus. Es dreht sich vielmehr um die Frage, wie sich Saisonhöhepunkte in die langfristige Entwicklung von Athleten einfügen, ihnen dabei helfen, wichtige Karriereschritte zu machen und sich nicht zu früh aus dem Schwimmsport zu verabschieden. Der innere Antrieb muss dabei Quelle für den Ehrgeiz der Sportler sein. In Deutschland wird der Blick da manchmal eher auf äußere Vorgaben, wie eben die Qualifikationszeiten gerichtet. Das meint auch Hannes Vitense: „Da herrscht bei uns noch zu oft die Denkweise, wenn du die Norm bringst, dann hast du das Potential im Finale zu sein. Nein: Der Athlet muss dieses Potential aus sich selbst heraus erkennen und die Norm, die Qualifikation, ist nur der Schritt dahin, die Chance zu haben, das dann in die Tat umzusetzen.“

Die Möglichkeit sich zu beweisen soll es für die deutschen Schwimmer zukünftig möglichst oft geben. Dabei beschäftigt Vitense, Berkhahn und Co. ein großes Problem, das in den vergangenen Jahren immer stärker zu Tage trat. Im Übergang vom Juniorenbereich hin zu den Erwachsenen brechen mitunter ganze Generationen von Talenten weg. Der angestrebte „Prozess“ – ein Wort, das Vitense immer wieder betont – wird beendet, bevor er eigentlich richtig begonnen hat. Einer der Gründe liegt in der oft fehlenden finanziellen Absicherung, um den Leistungssport mit vollem Fokus betreiben zu können. Dafür müsse man Systeme für duale Karrierewege entwickeln, so Vitense. Dass begabte junge Schwimmer früh die Segel streichen, hängt jedoch auch damit zusammen, dass sie nach den Höhepunkten im Juniorenbereich eine längere Zeit überbrücken müssen, um sich erneut auf hohem Level messen zu können. „Sollen wir die Athleten dann jetzt vier oder fünf Jahre lang nicht international starten lassen, weil das eben ein langer Weg ist? Das funktioniert so nicht “, erklärt Vitense, der stets den Blick über den Tellerrand hinaus wagt, sei es zu anderen Nationen aber auch zu anderen Sportarten. Anregungen aus Entwicklungen im Turnen oder auch eigene Erfahrungen in der Betreuung von Top-Triathleten wie Jan Frodeno fließen bei Vitense immer wieder in die Gedankengänge ein.

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