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Bild: Jo Kleindl
04. Februar 2019

Interessante Erkenntnisse hat er dabei in Kanada gefunden. „Das ist die Nation, die in den zurückliegenden Jahren am schnellsten in die Weltspitze hineingewachsen ist.“ Tatsächlich gibt es um Schwimmerinnen wie die Olympiasiegerin Penny Oleksiak oder die Kurzbahn-Weltmeisterin Taylor Ruck (beide Jg. 2000) eine ganze Generation an hoffnungsvollen Schwimmtalenten. Doch diese sind nur die Spitze, den der Blick geht in die Breite. Die Kanadier haben anhand von intensiven Datenanalysen festgestellt, dass in unterschiedlichen Schwimm-Disziplinen der Leistungshöhepunkt zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht wird und dies bei manchen auch erst einige Jahre versetzt passiert. Darauf basierend haben sie sogenannte „On-Track-Zeiten“ entwickelt, durch die man auch Spätentwickler identifizieren kann. „Diese On-Track-Zeiten zeigen, dass der Weg von der Junioren-Nationalmannschaft hin zur Elite mittlerweile durchaus etwas länger dauern kann und die Leistungen von Nachwuchsathleten sich nicht linear entwickeln. Das erkennen wir manchmal in Deutschland gar nicht und sortieren mitunter zu früh aus“, so Vitense.

Wenn Athleten über Jahre hinweg keine Gelegenheit haben, sich zu beweisen, dann fällt es nicht nur im eigenen Kopf schwer den Anspruch, es in die Weltspitze schaffen zu wollen, weiter aufrecht zu erhalten. Die Bestätigung des eigenen Könnens und eine Entwicklungsperspektive fehlen einfach. Vor allem in einem Alter, in dem Entscheidungen über die berufliche Zukunft zu fällen sind, verliert der Leistungssport dann schnell an Stellenwert. Der europäische Schwimmverband LEN erwägt daher die Einführung einer U23-EM. Die DSV-Spitze begrüßt das und will zukünftig ebenfalls gegensteuern: „Wir müssen unseren Athleten die Möglichkeit geben, sich auf dem Level zu messen, auf dem sie sich gerade befinden“, so Vitense. Dies können nach den Junioren-Höhepunkten eben Europameisterschaften auf der Kurzbahn oder Langbahn sein oder auch internationale Meisterschaften wie die Universiade.

In diesem Jahr werden so zum Beispiel die Athleten, die sich für die Junioren-Weltmeisterschaften im Sommer qualifizieren, automatisch für die Kurzbahn-Europameisterschaften im Winter nominiert. Zudem behalten sich die Bundestrainer die Möglichkeit vor, Athleten in Abstimmung mit ihrem persönlichen Umfeld auch ohne Normerfüllung zu nominieren, wenn ein bestimmter Höhepunkt strategisch in die Leistungsentwicklung des jeweiligen Athleten passt. Dabei sind diese Events nicht dazu gedacht, mal eben kurz-momentige Erfolge zu bejubeln. Stattdessen liegt der Fokus darauf, sie aktiv in die Entwicklung junger Athleten einzubinden. Zum einen sollen sie dort lernen mit Drucksituationen und der Atmosphäre bei Wettkämpfen auf europäischer oder globaler Ebene umzugehen. „Sie sollen aber vor allem auch Erfahrung damit sammeln, wie damit umzugehen ist, wenn man den Trainingsprozess mit maximalem Risiko gestaltet und dann in einen Wettkampf herein geht und sich mit den Besten misst“, meint der DSV-Teamcoach, der sich bewusst ist, dass die internationalen Einsätze nicht immer zu Finalplatzierungen führen werden.

„Da müssen wir das Risiko eingehen, dass der eine oder andere vielleicht im Vorlauf ausscheidet. Aber wir haben damit auch die Möglichkeit und den Anspruch, dass maximal viele Athleten den Sprung in die Halbfinals und Finals schaffen.“  Die Vergangenheit habe gezeigt, dass nicht immer nur die Kandidaten, mit denen jeder rechnet, bei den Top-Events glänzen können. „Manchmal geht so ein Stern bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften auf. Und diese Chance wollen wir unseren Athleten auch ermöglichen.“ Der Konkurrenzkampf um die Gelegenheiten, sich international zu beweisen, soll die Leistungen ebenfalls anfeuern. Nationen wie Großbritannien hätten dies erfolgreich vorgemacht.

Dabei betont Vitense erneut, dass der Weg dahin, der Prozess, entscheidend sei. Top-Leistungen entstünden nicht dadurch, dass man bestimmte Programme schwimmt, sondern mit welchem Einsatz man diese Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat ins Wasser bringt. In die konkrete Arbeit am Beckenrand wollen die Bundestrainer dabei gar nicht eingreifen, sondern die Ausrichtung der Nationalmannschaft so gestalten, dass sich die Schwimmer und ihr Umfeld voll auf eine langfristige Entwicklung konzentrieren können. „Unsere Aufgabe ist es zu steuern aber ebenso zu unterstützen, zu begleiten, immer wieder nachzufragen. Und die Aufgabe der Athleten und Trainer ist es, maximal gute Arbeit abzuliefern.“ Das Miteinander auf Augenhöhe unter den Trainerkollegen heben sowohl Vitense als auch Berkhahn immer wieder hervor. Dies erfordert viel Kommunikation, die wiederum Zeit und persönlichen Einsatz benötigt. Es ist daher angestrebt, die Trainer und Teams national stärker zu vernetzen und Möglichkeiten sowie Gelegenheiten zu schaffen, durch die man immer wieder einen gegenseitigen Austausch betreiben kann. „Es ist uns wichtig, dass wir das zusammen mit den Trainern erarbeiten. Weil wir eben nicht denken, dass wir die Schlausten von allen sind, sondern weil wir denken, dass wir alle zusammen in Deutschland zu den Schlausten in der Welt gehören können.“

Vor allem angesichts der zunehmenden Komplexität und Dichte im internationalen Schwimmsport, wo kleinste Entscheidungen in der Vorbereitung und Ausrichtung der Athleten am Ende das Ergebnis beeinflussen, sei es wichtig, dass man auf breite Kompetenz baut. Auch die neue Struktur an der Spitze der Nationalmannschaft spiegelt dies wieder. „Team Tokio 2020“ nennt sich der Stab um Berkhahn und Vitense, den der neue DSV-Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen zur Betreuung der Nationalmannschaft installiert hat. Ein Teamprojekt mit klaren Kompetenzen und Verantwortlichkeiten in dem jeder seinen speziellen kompetenten Beitrag einbringen könne, so die Verantwortlichen. Doch die Strategie geht weit über die nächsten Olympischen Spiele hinaus: Talente erkennen, sie langfristig unterstützen, damit sie für sich selbst die Zielstellung „Weltspitze“ entwickeln können und das alles in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Trainerkollegen. Es klingt nach ehrenwerten Ansätzen, die nun im Nationalmannschaftsalltag und in Situationen mit Konfliktpotential, wenn es dann zum Beispiel tatsächlich mal um konkrete Nominierungen geht, ihre Praxistests bestehen müssen. „Wir sind nicht gefeit vor Fehlern, wir sind nicht gefeit vor Niederlagen“, ist sich so auch Hannes Vitense bewusst. „Aber wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen, wissen wir, dass wir das Maximale aus unseren Möglichkeiten herausholen können.“