(13.03.2022) Während in Deutschland die Schwimmsaison so langsam wieder an Fahrt aufnimmt, steht in den USA bereits ein wichtiger Saisonhöhepunkt unmittelbar vor der Tür. Vom 16. bis 19. März werden in Atlanta die nationalen College-Meisterschaften (NCAA) der Frauen ausgetragen. Mit dabei sind auch einige deutsche Schwimmerinnen, die es zum Studieren in den USA gezogen hat.
Hoffnungen machen darf sich vor allem Julia Mrozinski. Obwohl sie erst seit dieser Saison in den USA lebt, hat die für die University of Tennessee startende Freistilspezialistin sowohl auf ihren Einzelstrecken, den 200 und 500 Yards Freistil, als auch in der Teamwertung bereits gute Chancen, um die Meistertitel mitzukämpfen. Im Vorfeld der Wettbewerbe zeigt sich Julia durchaus optimistisch: "Natürlich ist es irgendwie unser Ziel zu gewinnen. Vor zwei Wochen haben wir ja bereits unsere Conference-Meisterschaften gewonnen und wir sind einfach ein wahnsinnig starkes Team." In erster Linie gehe es ihr aber darum, Bestzeiten zu schwimmen und möglichst viele Erfahrungen zu sammeln. Dass sich Julias erste Collegesaison direkt so erfolgreich gestalten könnte, sei dabei auch für sie selbst eine positive Überraschung gewesen. Gegenüber swimsportnews erklärte die 22-Jährige: "Meine Erwartungen wurden wirklich komplett übertroffen. Jetzt kurz vor den Meisterschaften habe ich gemerkt, dass ich wirklich eine Chance habe zu gewinnen."
Doch einfach wird das nicht, denn auch die Konkurrenz über die Freistildistanzen ist stark einzuschätzen. Unter anderem möchte auch Lia Thomas um die Meistertitel über eben diese Strecken mitschwimmen. Sie zog in den zurückliegenden Wochen und Monaten die Blicke der Weltöffentlichkeit auf sich. Der Grund: Lia wurde als Mann geboren. Sie ist die erste Transgender-Athletin, die in der NCAA und demnächst vielleicht sogar auf noch größeren Bühnen um die Titel schwimmen will.
Die 22-Jährige aus Texas begann bereits in jungen Jahren mit dem Schwimmen. Nach der Highschool zog es die Freistilspezialistin an die Ostküste zur University of Pennsylvania, wo sie ihre Schwimmkarriere fortsetzte. Lia realisierte ihre Trans-Identität gegen Ende ihrer Highschool-Zeit, outete sich aber erst im College. In den ersten drei Jahren in Pennsylvania ging Lia weiterhin bei den Männern an den Start, begann dann aber im Mai 2019 eine Hormontherapie, die aus Testosteronhemmern und der Einnahme von Östrogen besteht. Seit dieser Saison startet Lia nun erstmals in der Frauenkonkurrenz, wodurch sich die Kontroverse um ihre Person erheblich verschärfte. Denn während Lia bei den Männern im guten Mittelfeld zu finden war, schwimmt sie bei den Frauen nun um Titel und Rekorde mit - ihre Bestzeiten liegen im Bereich zahlreicher College-Bestmarken, die von von den Superstars Missy Franklin und Katie Ledecky gehalten werden. Bei den nun anstehenden NCAA Meisterschaften tritt Lia Thomas direkt mit Titelchancen über die 100, 200 und 500 Yards Freistil an. In der laufenden Saison konnte sie bereits mit zahlreichen Pool- und Ivy League Rekorden glänzen.
.
Ob Lia Thomas bei den College Meisterschaften überhaupt starten darf, war lange Zeit unklar. Grund dafür waren nicht zuletzt Unstimmigkeiten zwischen den Regelwerken der NCAA und des US-Schwimmverbandes. Die NCAA erlaubt transsexuellen Schwimmerinnen die Teilnahme an College-Wettkämpfen, sofern diese seit mindestens 12 Monaten eine Hormontherapie durchführen. Der US-Verband auf der anderen Seite verabschiedete erst am 1. Februar neue Regelungen, die eine Hormontherapie von mindestens drei Jahren voraussetzen. Zudem muss der Testosteronwert von Transgender-Athletinnen unter einem bestimmten Normwert liegen. Dieser ist mit 5 Nanomol pro Liter deutlich geringer als es beispielsweise das IOC verlangt. Lia Thomas wäre dementsprechend in Atlanta nicht startberechtigt gewesen, da der Beginn ihrer Hormontherapie erst 34 Monate zurückliegt. Die NCAA erklärte jedoch, diese neue Regelung zunächst nicht umsetzen zu wollen, da es nicht rechtmäßig sei, das Regelwerk inmitten einer laufenden Saison so umfangreich zu ändern. Somit gilt Lia Thomas bei den Meisterschaften in Atlanta als startberechtigt und dürfte damit auch viele der Schlagzeilen rund um die NCAAs bestimmen.
Der sportliche Werdegang von Lia Thomas polarisiert und ist dementsprechend auch in den Medien sehr präsent. Lia selbst verhält sich gegenüber der Presse eher zurückhaltend und reserviert. Vor einigen Tagen gab sie erstmals ein ausführliches Interview in der Sports Illustrated. Vermehrt betonte sie dabei, dass Sport allen Menschen gleichermaßen offen stehen sollte, ungeachtet der sexuellen Identität. Lia sieht sich selbst als Vorbild für kommende Generationen: "Ich möchte transsexuellen Kindern und AthletInnen einfach zeigen, dass sie nicht alleine sind. Sie müssen sich nicht entscheiden dazwischen, wer sie sind und dem Sport den sie lieben.".
Auch innerhalb ihres Teams ist Lia umstritten. Die Sports Illustrated berichtet, dass sich von den 37 Teammitgliedern lediglich sechs bis acht als klare Supporter von Lia bekennen. Die Hälfte des Teams spricht sich hingegen gegen ein Startrecht für Lia bei den Frauen aus, der Rest möchte sich nicht positionieren. Es ist allerdings bekannt, dass aus den Reihen der University of Pennsylvania anonyme Briefe veröffentlicht wurden, die ein generelles Startverbot für Lia forderten. Lia Thomas selbst erklärte, sie könne die Kontroverse rund um ihre Person tatsächlich ausblenden: "Ich beachte die Negativität und den Hass gar nicht. Ich bin einfach hier um zu schwimmen.".
Es ist wohl unbestreitbar, dass es stets das übergeordnete Ziel im Sport sein sollte, die Chancengleichheit für alle zu wahren. Doch inwieweit lässt sich dieses Ideal mit der Tatsache vereinbaren, dass Transgender-Athletinnen gegenüber ihren als Frauen geborenen Gegnerinnen über besondere körperliche Voraussetzungen verfügen? Oder anders gefragt, haben Sportlerinnen wie Lia Thomas einen unumkehrbaren biologischen Vorteil, da sie die Pubertät als Mann durchlaufen haben?
Die Studienlage zu dieser Thematik ist tatsächlich noch sehr gering. Fest steht jedoch bereits, dass die möglichen Vorteile von Transgender-Athletinnen in verschiedenen Sportarten variieren. Für das Schwimmen entscheidend sind in der Regel vor allem die Körpergröße, auch bezogen auf Hände und Füße, sowie ein größeres Herz- und Lungenvolumen. Diese körperlichen Voraussetzungen bleiben von einer Hormontherapie weitestgehend unberührt - ein Sachverhalt der Raum für Kritik bietet. So äußerte sich beispielsweise Nancy Hogshead-Makar, Olympiasiegerin von 1984, ablehnend gegenüber der Startberechtigung von Transgender-Athletinnen wie Lia Thomas. Hogshead-Makar trat in der Vergangenheit unter anderem als Aktivistin für Frauenrechte in Aktion. Mit ihrer Organisation „Champion Women“ positioniert sie sich für Frauen im Sport, deren sexuelle Identität mit ihrem Geburtsgeschlecht übereinstimmt (CIS). Hogshead-Makar bekräftigt öffentlich, dass eine Teilnahme von Lia im Feld der Frauen die Chancengleichheit massiv untergraben würde. "Lia Thomas hat uns allen gezeigt, dass die zurzeit geltenden Regelungen nicht fair sind. Der Versuch Lia in die Startkategorie der Frauen zu zwingen, erzeugt lediglich Unmut", schrieb die US-Amerikanerin in einem im Swimming World Magazine veröffentlichten Artikel.
Nichtsdestotrotz lässt sich in Folge von sinkenden Testosteronwerten eine abnehmende Leistungsfähigkeit bei Transgender-Athletinnen feststellen. In ihrem Interview mit der Sports Illustrated berichtet Lia Thomas von reduzierten Kraftwerten und leicht abnehmender Körpergröße, die bei ihr durch die Hormontherapie ausgelöst wurden. Und tatsächlich hat die sportliche Leistungsfähigkeit von Lia seit Beginn der Hormonbehandlung erkennbar abgenommen, obwohl sie trotzdem, wie bereits hervorgehoben, nun zu den besten College-Schwimmerinnen zählt. Es ist zu vermuten, dass sich bei Lia der Trend einer abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit durch die fortschreitende Einnahme von Hormonpräparaten fortsetzen könnte. Dadurch entsteht ein Paradoxon, da Lia auf der einen Seite trainiert, um ihre sportlichen Leistungen zu steigern, aber die Hormonbehandlung diesem Prozess entgegenwirkt bzw. ihn sogar umkehren soll.
Was deutlich wird: Aus dieser Kontroverse heraus ergibt sich der Ruf nach einheitlichen und transparenten Richtlinien, die auf der einen Seite die Chancengleichheit im Schwimmsport aufrechterhalten, aber es gleichzeitig Transgender-Athletinnen erlauben, ihre Identität und Passion miteinander zu vereinbaren. Denn auch wenn die Zahl von transsexuellen Leistungssportlerinnen verhältnismäßig gering ist, ist Lia Thomas natürlich kein Einzelfall. Somit wird der sportliche Werdegang von Lia auch unabhängig vom Ausgang bei den diesjährigen College-Meisterschaften weiterhin eine hohe Aufmerksamkeit und Medienpräsenz hervorrufen.
Lia Thomas erklärte, dass sie ihre Karriere als Schwimmerin auch in den kommenden Jahren gerne fortsetzen möchte. In Anbetracht ihrer aktuellen Leistungen ist es gut möglich, dass sie dann auch auf internationaler Ebene auf sich aufmerksam machen könnte. Die vom US-Schwimmverband eingeführten Richtlinie für Transgender-Athletinnen würden Lia Thomas ab dem Sommer dann auch ein Startrecht im Nationalteam erlauben, für welches die Startplätze bekanntermaßen immer eng umkämpft sind. Der Fall von Lia Thomas hat in den USA zweifellos große Wellen geschlagen, die zusehends auch über den Atlantik schwappen. Julia Mrozinskis Blick aber richtet sich voll auf das Wettkampfbecken. "Ich möchte mich auf meine eigene Leistung konzentrieren, um für mich und mein Team möglichst gute Ergebnisse zu erzielen.", erklärte Julia in Hinblick auf das Aufeinandertreffen mit Lia Thomas.
Aber auch unabhängig von der Debatte rund um die biologischen Voraussetzungen der Schwimmerinnen, werden bereits die zu erwartenden packenden Rennen um die Meistertitel für jede Menge Spannung im Pool von Atlanta sorgen.
Bilder Lia Thomas: Chris Szagola / ASSOCIATED PRESS / picture alliance