(21.06.2017) Freud und Leid waren am Dienstag nach Bekanntwerden der Nominierung der deutschen Mannschaft für die Weltmeisterschaften in Budapest nah beieinander. Die einen konnten erleichtert sein, dass der Verband trotz verpasster Norm für ihre Berufung ins WM-Team ein Auge zudrückte. Die anderen mussten verwundert feststellen, dass ähnlich knappe Leistungen bei ihnen nicht zur Berücksichtigung für die Nationalmannschaft reichten.
"Wieso wird die 4x200m Freistil-Staffel der Herren nominiert, die 0,48 Sekunden über der Norm schwamm, die Mädels der 4x100m Lagen-Staffel aber müssen mit dem Ofenrohr ins Gebirge schauen, obwohl sie die Norm lediglich um 0,20 Sekunden verfehlten", fragt so mit Marco di Carli ein prominenter ehemalige Nationalschwimmer auf Facebook.
Sein Post machte schnell die Runde, wurde mehr als 100-fach geteilt. Der Olympiafinalist von 2004 und 2012 scheint damit einen Nerv getroffen zu haben. Die Kommentarleisten unter den Artikeln zur Berufung des WM-Team liefen am Dienstag ebenfalls heiß.
Bundestrainer Henning Lambertz begründet die Nominierung der 4x200m-Herren mit den Worten: "Die Staffel hat die WM-Norm trotz der Rücktritte von Paul Biedermann und Florian Vogel nur um wenige Zehntel verpasst. Mit der Nominierung wollen wir ein klares Zeichen dahingehend setzen, dass es mit der ehemaligen Königsstaffel weitergehen wird." Di Carli wiederum macht den Umkehrschluss auf: Sei jetzt davon auszugehen, "dass Henning Lambertz alle anderen Staffeln für nicht förderungswürdig ansieht?", wundert er sich.
Die jeweils besten vier Schwimmer über die 100 und 200m Freistil bzw. die schnellsten vier Schwimmer der 100m-Einzelstrecken mussten bei den Deutschen Meisterschaften in der Summe vom DSV vorgegebene Normzeiten unterbieten, um die Staffeln für die Weltmeisterschaften zu qualifizieren. Dies war nur den Herren der Lagenstaffel gelungen.
Den Männern der 4x200m Freistilstaffel fehlte nur eine knappe halbe Sekunde, die 4x100m Lagendamen verpassten die Zeit um 0,2 Sekunden und die 4x100m Freistilherren lagen knapp acht Zehntel darüber. Die beiden Freistilstaffeln der Damen verfehlten die Zeiten deutlicher, wie ihr hier nachlesen könnt: Normen verpasst: Nur eine deutsche Staffel bei der WM?
Neben den Sportlern, die für die 4x200m Freistilstaffel berücksichtigt wurden, machte der DSV für Aliena Schmidtke eine weitere Ausnahme, sie wurde für die gemischte 4x100m Lagenstaffel nominiert. Mit der in den USA lebenden Magdeburgerin hätten die besten Vier der Deutschen Meisterschaften "in Addition der Einzelzeiten von Berlin (...) in der schnellsten Aufstellung bei der WM 2015 in Kazan sicher das Finale erreicht", so die Begründung des DSV.
Auch diese Aussage sorgt bei di Carli für Verwunderung. Er rechnet vor: Auch die diesmal nicht berücksichtigte 4x100m Lagenstaffel der Damen, die 4x100m Freistilstaffel der Herren und sogar die 4x200m Freistilstaffel der Damen hätten bei den Weltmeisterschaften 2015 das Finale erreicht.
"Mal ganz von den Spannungen der Leistungssportreform, Trainingskonzeption und Arbeitsverträgen abgesehen, erachte ich dieses Vorgehen als grob unfair gegenüber den zwei Mädels, die nicht nominiert wurden", meint di Carli mit Blick auf Brustschwimmerin Vanessa Grimberg und Freistilsprinterin Anna Dietterle, die nicht für die 4x100m Lagenstaffel der Damen berücksichtigt wurden.
Grimberg war beim Bundestrainer bereits vor den Meisterschaften in Ungnade gefallen, weil sie nicht an den DSV-Bundesstützpunkt in Heidelberg wechseln wollte und dafür mit dem Verlust ihrer Stelle in der Sportfördergruppe der Bundeswehr bestraft wurde. Dietterle war in den zurückliegenden Jahren bereits mehrfach knapp an einer Nominierung für das Nationalteam gescheitert.
"Wir haben bis zuletzt gehofft", so die Spandauerin, aber am Ende habe man sich leider dagegen entschieden, der Staffel eine Chance zu geben. Grimberg meint mit Blick auf ihre persönliche Bestzeit, mit der sie über die 100m Brust ihren Meistertitel verteidigte: "Ich bin froh, dass ich zeigen konnte, dass meine Entscheidung die richtige für mich war."
Der DSV hat in diesem Jahr bewusst harte Normen angesetzt. Diese seien "keine Spinnerei, sondern internationaler Standard, den wir erreichen müssen, wenn wir vorne mitmachen wollen", so Henning Lambertz. Man hat sich beim DSV auch durchaus Zeit genommen mit der Entscheidung, nun doch Ausnahmen zu machen. Statt wie erwartet schon am Sonntagabend wurde das WM-Team erst am Dienstag verkündet.
Dabei unternimmt der DSV zwar den Versuch, die zusätzlichen Nominierungen zu begründet, verpasst es aber im Gleichzug zu erklären, warum andere, die die gleichen Bedingungen (Norm nur knapp verpasst, Finalchance bei der WM, "Signal, dass es weitergeht") erfüllten, nicht berücksichtigt wurden. Mit dem Aufweichen der eigenen Kriterien, hat man sich in eine schwierige Position begeben. Was heißt es, eine Norm "knapp" zu verpassen? "Ist das eine Zehntel auf 100m oder zwei auf 200m", fragte Henning Lambertz selbst noch vor dem letzten Abschnitt der Deutschen Meisterschaften im Rahmen der Abschlusspressekonferenz.
Die Antwort liefert er jetzt quasi selbst: 4,8 Zehntel auf 4x200m sind ok, aber 0,2 Zehntel auf 4x100m sind zu viel. Sehr schlüssig scheint das nicht. Oder war es das "Verbandsinteresse", das in dieser Frage entschieden hat? Damit bleibt zu begründen, warum die eine Staffel wichtig für den DSV ist, die andere jedoch nicht.
Gerade einmal zwei Athletinnen hätten für die Lagenstaffel der Damen zusätzlich nominiert werden müssen. Klar, man macht dann die Tür auf für die Frage: "Hey, warum dann nicht die 4x100m Freistilstaffel der Herren?!" Denen fehlten ja auch nur ein paar Zehntel. Folgt man der Begründung "Zeichen für die Zukunft" setzen zu wollen, und nominiert auch eine 4x100m Freistilstaffel der Herren, würden nochmal lediglich zwei Sportler mehr im Team stehen. (Damian Wierling und Marius Kusch stehen ohnehin im WM-Team.) Die WM-Mannschaft wäre von 14 auf 18 Athleten gewachsen. Eine Zahl, mit der die elf nominierten Betreuer durchaus nicht überlastet gewesen wären.
"Wer harte Normen ansetzt, sollte sich vielleicht auch daran halten, sofern er Ernst genommen werden will. Mit diesem Ganzen "mal Hüh, mal Hott" wird der deutsche Schwimmsport vermutlich auf keinen grünen Zweig kommen", meint di Carli und gratuliert den Athleten, die es zu WM geschafft haben. Für die, die diesmal nicht berücksichtigt wurden, bleibt nur der Blick nach vorn. Oder wie Anna Dietterle es ausdrückt: "Jetzt heißt es neue Kraft sammeln, um im nächsten Jahr noch eine Schippe drauf zu legen."
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