Um im Wettkampf an die eigenen Leistungsgrenzen gehen zu können, müssen auch im Training gezielt große Reize gesetzt werden. Gibt man als Schwimmer in den täglichen oder mehrfach wöchentlichen Einheiten immer nur 80 Prozent, erreicht man nicht das, was das eigene Potential eigentlich hergeben würde. Deshalb wird richtig rangeklotzt, Kilometer geschrubbt und Gewichte gestemmt. Doch Vorsicht: Wer zu viel will, der läuft Gefahr ins Übertraining abzurutschen. Und dann gibt es statt neuer Bestzeiten ein schmerzhaftes, langwieriges Leistungstief.
Viele Schwimmer kennen das: Man quält sich stundenlang im Wasser, richtet Ernährung und Lebensweise nach dem Sport aus und trotzdem rückt die erhoffte Bestzeit immer weiter in Ferne. Die Reaktion: Man versucht noch härter zu trainieren. Schnell kann man so in eine teuflische Spirale geraten, denn die Ursache für die ausbleibenden Erfolge ist oft nicht zu wenig sondern zu viel Belastung. „Übertraining“ ist keine Ausrede für mangelnden Leistungswillen sondern ein wissenschaftlich nachgewiesenes Phänomen, das gerade in unserem Sport häufig zu beobachten ist. Je nach Studie gelten zwischen 15 und 25 Prozent der Leistungsschwimmer als übertrainiert. Egal, welche Untersuchung man betrachtet, die Zahl ist durchaus alarmierend. Je höher das Leistungsniveau, desto höher ist auch die Gefahr mindestens einmal in seiner Laufbahn davon betroffen zu sein.
Die Angst vor dem verschwendeten Potential
Leistungswille und Ehrgeiz – als Schwimmer ist man immer darum bestrebt, die nächste Bestzeit hinzulegen. Wie kann ich noch schneller werden? Was steckt in mir? Wo liegen meine Grenzen? Das eigene Potential, bzw. aus Trainersicht das Potential der trainierten Athleten, will erschlossen werden. Im Wettkampf kann aber nur das abgerufen werden, wozu der Körper vorher ausgebildet wurde. Deshalb fürchten viele, dies durch eine Unterforderung im Training zu verhindern. Tatsächlich kann es gerade bei jugendlichen Athleten vorkommen, dass eine Unterforderung und die daraus resultierenden geringeren Leistungszuwächse verhindern, dass sie ihr eigenes Potential überhaupt erkennen. Andere Lebensinhalte können dann schnell wichtiger werden als der Sport und so wird das Talent nicht weiter ausgebildet. Die größte Gefahr bei Unterforderung ist im Grunde „nur": Man schöpft sein Potential nicht aus und der Sport als Ganzes verliert möglicherweise ein hoffnungsvolles Talent. Überforderung hingegen kann für den einzelnen Sportler ernsthafte Folgen haben. Dabei muss man unterscheiden: Hartes und ermüdendes Training führt nicht zwangsweise zu Übertraining. Im Gegenteil, oft sind kurzzeitige Überbelastungen sogar gewollt. Gerade in mehrwöchigen Trainingslagern ist dies oft der Fall, statt Übertraining spricht man hier jedoch von gezieltem „Overreaching“. Für Sportler ist es von grundlegender Bedeutung, dass die bisherigen Grenzen immer wieder überschritten werden, um die gewünschten Anpassungsreaktionen und Leistungsfortschritte zu erzielen. Wichtig ist es dabei jedoch, dass das individuelle Gleichgewicht zwischen Belastung und Erholung nicht aus den Fugen gerät. Nach bewusst gesetzten Overreaching-Phasen kann es durchaus zwei Wochen dauern, bis man von den Strapazen nichts mehr spürt.
Die Anzeichen
Bleiben die Ermüdungserscheinungen aber dauerhaft, kann das ein Symptom für Übertraining sein. Es äußert sich unter anderem dadurch, dass zum Beispiel Muskelkater nicht wie gewohnt nach ein paar Tagen verschwunden ist, sondern sich lange hinzieht. Typisch sind auch langwierige Gelenk- oder Gliederschmerzen. Jeder kennt das von der letzten Erkältung, doch diesmal fühlt man sich auch ohne Erkrankung total schlapp. Zudem scheint nicht nur der Körper erschöpft. Übertraining wirkt sich auch auf den Kopf aus. Anhaltende Lustlosigkeit, fehlende Motivation aber auch grundlose Gereiztheit über mehrere Tage und Wochen hinweg sind typisch. Und: Obwohl Körper und Geist ermüdet sind, gibt es Probleme beim Ein- bzw. Durchschlafen. Ein handfestes Anzeichen für Übertraining zeigt sich zudem beim Blick auf die sportlichen Leistungen. Eigentlich sollen gesteigerte Trainingsumfänge oder –intensitäten zu schnelleren Zeiten führen. Wenn aber über Monate oder sogar noch länger hinweg keine Verbesserungen auftreten und man sogar Leistungseinbrüche verzeichnet, kann Übertraining ein Grund dafür sein.
Die Ursachen
Es wird also hart trainiert, doch die erhofften Anpassungserscheinungen bleiben aus. Damit sind wir direkt bei der Frage: Wie kommt es zu Übertraining? Einfach gesagt, kann es dann auftreten, wenn man so oft bzw. intensiv trainiert, dass dem Körper nicht genug Zeit bleibt, sich zu regenerieren. Die Gründe dafür liegen Sportwissenschaftlern zu Folge sowohl auf neuronaler als auch auf hormoneller Ebene. Durch permanente Überlastung kann es dazu kommen, dass die Nervenimpulse, die das Gehirn sendet, um die Muskeln zu steuern, schwächer werden. Das ist im Grunde nichts anderes als ein Schutzmechanismus des überreizten Nervensystems, um Schädigungen in Muskeln bzw. Sehnen und Gelenken zu vermeiden. Spürbar wird es dadurch, dass sich der Körper – obwohl man ihm die gewohnten Signale gibt – träger anfühlt.
Die hohen Belastungen ohne ausreichende Regeneration können auch hormonelle Auswirkungen haben. Studien haben festgestellt, dass der Körper bei Übertraining zu wenig Testosteron und vermehrt Cortisol ausschüttet. Testosteron begünstigt den Muskelaufbau bzw. die Muskelanpassung beim Sport. Cortisol wiederum ist ein Stresshormon, das sich unter anderem auf den Fettstoffwechsel auswirkt. Entscheidend ist das Verhältnis beider Hormone. Es wird vermutet, dass dieses durch Übertraining durcheinander gerät. Letztendlich führt dies dazu, dass die für die Muskelanpassungen wichtige Proteinsynthese gestört wird und der Körper dazu angeregt wird, Energiereserven in Form von Fettpolstern aufzubauen. Die über die Nahrung zu sich genommenen Kalorien werden gespeichert statt verbrannt. Die Folge sind eine geringere Belastbarkeit im Training sowie ausbleibende Leistungsverbesserungen.
Übertraining erkennen
Nun ist es natürlich nicht möglich, ständig komplette Blutbilder erstellen zu lassen, um zu prüfen, ob sich auffällige Hormonkonstellationen zeigen. Nach wie vor ist die Sportwissenschaft auf der Suche nach einer in der Praxis anwendbaren Möglichkeit, um Übertraining eindeutig zu diagnostizieren. Meist wird es erst erkannt, wenn die Spirale steigender Umfänge und Intensitäten zu Verletzungen der Muskeln, Gelenke oder Sehnen geführt hat. Als derzeit bester Weg, um Übertraining frühzeitig zu identifizieren, gilt ein Ausschlussverfahren aller ansonsten in Frage kommenden Gründe für die Symptome und die ausbleibenden Leistungszuwächse. Das ist gar nicht so einfach. Oftmals zeigt sich bei Übertraining ein höheres Infektrisiko. Die typische Schlappheit und Antriebslosigkeit wird dann auf eine Erkältung zurückgeführt, obwohl diese gar nicht der Auslöser, sondern lediglich ein weiteres Symptom ist. Die ausbleibenden Leistungszuwächse werden häufig erst erkannt, wenn die Wettkampfperformance nicht wie erhofft ist. Zuvor werden die mangelnden Trainingsleistungen auf die normalen Ermüdungserscheinungen des regelmäßigen Trainings, auf mangelnde Motivation, schlechte Ernährung oder äußere Stressfaktoren (Schule, Studium, etc.) geschoben. Nach harten Trainingsphasen ist es normal, dass die Leistungen erst einmal um ein gewisses Maß zurückgehen. Ist jedoch ein Einbruch von mehr als zehn Prozent zu beobachten, sollte die Bremse gezogen werden. Als Faustregel gilt: Treten mindestens drei Anzeichen für Übertraining (z.B. mangelnde Trainingsleistungen, Antriebslosigkeit, Gliederschmerzen) auf, ohne dass es dafür andere Erklärungen gibt, sollte man wachsam sein, die Erholungsphasen stärker betonen und wenn möglich auch einen Mediziner zu Rate ziehen.
Übertraining vermeiden
Am effizientesten ist es, Übertraining von vorn herein zu vermeiden oder zumindest die Anzeichen so früh wie möglich zu erkennen. Dass das leichter gesagt als getan ist, zeigt der hohe Anteil an Leistungsschwimmern, bei denen das Phänomen auftritt. Erfahrung und Feingefühl bei der Trainingssteuerung sind hier von Vorteil. Nach harten Trainingsperioden müssen angemessene Erholungsphasen eingeräumt werden. Dabei hilft es, wenn sich Trainer und Schwimmer bereits lange kennen und der Coach über die individuellen Anpassungen seiner Athleten Bescheid weiß. Um nicht nur nach dem Gefühl gehen zu müssen, sondern konkrete Daten zu erhalten, können regelmäßige Testserien im Training analysiert werden. Gibt es Fortschritte zu verzeichnen? Wie stark geht die Leistung nach Overreaching-Phasen zurück? Wie sieht die Entwicklung über einen längeren Zeitraum aus? Auf höheren Leistungsniveaus können mögliche Übertrainingsanzeichen auch bei Laktattests festgestellt werden. Bringt der Athlet bei den üblichen Laktakkonzentrationen schwächere Leistungen bzw. zeigen sich Auffälligkeiten im Verlauf der Laktatkurve oder erreicht der Schwimmer nicht mehr die einstigen maximalen Laktatwerte, können auch dies Anzeichen für Übertraining sein. Fingerspitzengefühl ist angebracht, wenn neue Inhalte ins Training eingebracht werden sollen, vor allem wenn es sich um hohe Intensitäten bzw. neue Belastungen handelt. Eine Studie unter australischen Leistungsschwimmern hat gezeigt, dass bei Mittel- und Langstreckenspezialisten zusätzliches Krafttraining mit Gewichten sehr schnell dazu führen kann, dass Überlastungserscheinungen auftreten. Hier muss also gerade zu Beginn behutsam vorgegangen werden.
Aber auch der Athlet selbst muss wachsam sein und in seinen Körper hineinhorchen. Treten Symptome des Übertrainings auf, gilt es ehrlich zu analysieren, ob dafür andere Ursachen verantwortlich sein könnten. Bin ich abgelenkt durch Studium, Beruf, Familie? Ernähre ich mich ausreichend und angemessen? Gab es Krankheiten oder Verletzungen, die für Leistungsschwächen verantwortlich sein können? Diese Punkte gilt es zu hinterfragen, um zu vermeiden, dass man in die Überlastungsspirale hineingerät. Mangelnde Ernährung kann so zum Beispiel auch ein Grund dafür sein, dass der Körper nicht ausreichend regenerieren kann und man somit ins Übertraining hinüberkippt. Daher kann es auch sinnvoll sein, ein Trainingstagebuch zu führen, in dem man festhält, welche Inhalte auf dem Programm standen, wie sich der Körper danach anfühlte, aber auch Punkte wie Ernährung, Schlafverhalten und Gesundheitszustand können hier betrachtet werden. Dabei sollte man alles auf einer Skala (z.B. 1 bis 7) bewerten, um es später vergleichen zu können. Die oben genannte Studie aus Australien stellte so zum Beispiel fest, dass längere Phasen mit Schlafproblemen vor allem in der Saisonmitte ein typisches Anzeichen für Übertraining sind. Dies kann über ein Trainingstagebuch festgestellt werden.
Was tun, wenn es zu spät ist?
Übertraining ist nicht nur hart zu erkennen. Es hat auch langwierige Folgen. Wenn ein Schwimmer betroffen ist, hilft erst einmal nichts anderes als die Handbremse zu ziehen. Medikamentöse Behandlungen können zwar die Symptome kaschieren, aber nur eine radikale Reduzierung der Belastungen beseitigt die Ursache des Übels. Bis der Körper wieder normal belastungsfähig ist, können nicht nur Wochen sondern Monate vergehen. Das Problem sind dabei weniger die muskulären Beanspruchungen der Übertrainingsphase. Gravierender sind die hormonellen und neuronalen Auswirkungen. Bis hier wieder ein Gleichgewicht hergestellt ist, benötigt es Zeit. Dabei können verschiedene Maßnahmen unterstützend eingesetzt werden. So hilft Yoga zum Beispiel dabei, das Körpergefühl zurückzuerlangen. Auch Mediationstechniken sowie Akkupunktur sollen Erfahrungsberichten zufolge positive Ergebnisse erzielen. Das Wichtigste ist aber: Zeit. Überehrgeiz hat die Probleme ausgelöst, nun ist Geduld gefragt.
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