Was unterscheidet das Sprinten vom „normalen“ Schwimmen? Natürlich, die Strecken sind kürzer und die Geschwindigkeit ist deutlich höher. Aber die eigentliche Antwort auf diese Frage liegt viel tiefer. Beim Sprinten verändern sich die Gegebenheiten im Zusammenspiel von Wasser und Schwimmer zum Teil gravierend. Das hat auch Auswirkungen auf Technik und Wasserlage. Die Physik des Sprintens gibt uns wichtige Hinweise darauf, wie wir im Schwimmbecken maximale Geschwindigkeiten erzielen können.
Physik… Da denken viele schnell an langwierige Schulstunden, stumpfe Theorie und trockene Formelherleitungen. Wie bedeutsam die Naturwissenschaft aber in der Praxis ist, zeigt sich gerade bei uns Schwimmern. Unsere Sportlerkollegen an Land haben festen Boden unter den Füßen, so wie man es als Mensch von Kindesbeinen an gewohnt ist. Wir Schwimmer hingegen müssen bei unseren Anstrengungen die Bedingungen eines fremden Elements beachten. Im Wasser sind die Abläufe und Wechselwirkungen weitaus komplexer. Läufer rennen immer auf festem Boden, egal ob sie sprinten oder einen Marathon absolvieren. Bei uns Schwimmern hingegen verändert sich das, was mit dem Wasser passiert, nicht nur in Abhängigkeit von Körpereigenschaften wie Muskulatur und Masse sondern schon allein durch die verschiedenen Geschwindigkeiten, mit denen wir uns durchs Wasser bewegen.
Der Tragflächenboot-Effekt und die Doppelwelle
Oft wird vermutet, dass Schwimmer es bei steigenden Geschwindigkeiten auch mit einem höheren Wasserwiderstand zu tun haben und Kraft aufwenden müssen, um diesen zu überwinden. In der Praxis zeigt sich aber: Diese Annahme ist im Grunde falsch, denn ein ganz anderer Effekt wirkt dem entgegen. Je schneller ein Körper sich im Wasser fortbewegt, desto größer wird sein Auftrieb, also die Kraft, die ihn entgegen der Schwerkraft nach oben aus dem Wasser drückt. In der Schifffahrt wird dies bereits seit mehr als 100 Jahren bei Tragflächenbooten genutzt. Bei diesen sorgt jener dynamische Auftrieb bei hohen Geschwindigkeiten letztlich dafür, dass der Rumpf des Bootes das Wasser gar nicht mehr berührt, sondern sich nur noch ein Tragflügel mit Antriebspropeller unter der Oberfläche befindet.
Wir Schwimmer können nun natürlich nicht so schnell wie ein Tragflächenboot durchs oder besser gesagt „übers“ Wasser pflügen. Aber dieser Effekt lässt sich auch bei uns beobachten. Sprinter, die mit hohen Geschwindigkeiten an die 2,0 m/s oder darüber durchs Wasser pflügen, liegen höher im Wasser als Athleten, die mit den für Mittel- und Langstreckenschwimmern typischen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Bei Freistilschwimmern ist der Kopf dadurch nur noch wenige Zentimeter eingetaucht und bei den Brust- sowie Schmetterlingsschwimmern taucht der Oberkörper kaum mehr ins Wasser ab. Das hat den Effekt, dass der Körper dem Wasser frontal, also in Bewegungsrichtung, eine viel kleinere Angriffsfläche bietet und damit der Wasserwiderstand geringer ist als bei niedrigeren Schwimmgeschwindigkeiten.
Neben der Wasserlage des Schwimmers verändert sich mit steigender Geschwindigkeit auch das Wellenbild, das sich durch seine Fortbewegung im Wasser ergibt. Wer eher langsam schwimmt, der gleitet tatsächlich durch das Wasser hindurch und erzeugt damit relativ kleine und vielfältige Wellen. Je schneller ein Athlet schwimmt, desto mehr Druck übt er auf das Wasser aus, das zu einer Welle angehoben und vom Athleten sozusagen mitgeschleppt wird. Ab einer bestimmten Geschwindigkeit bilden sich so im Bereich des Körpers zwei Wellenberge, die sich mit dem Athleten mitbewegen. Der erste davon zeigt sich etwa im Bereich von Kopf und Schultern. Da der Körper beim Sprinten wie bereits beschrieben recht hoch im Wasser liegt, surft der Athlet quasi auf dieser Welle. Der zweite Wellenberg bildet sich auf der Höhe zwischen Knie oder Unterschenkel und den Füßen.
Du bist nie so schnell wie nach dem Start
Der eine oder andere fragt sich nun natürlich, wie komme ich denn überhaupt auf solche Geschwindigkeiten? Die Antwort ist recht simpel: Du bist bereits so schnell. Beim Start hat der Körper in der Luft eine Geschwindigkeit von vier bis fünf Metern pro Sekunde. Durch das Eintauschen ins Wasser wird diese natürlich schlagartig abgebremst, liegt aber immer noch bei über drei Metern pro Sekunde und somit deutlich über dem, was wir im Durchschnitt auf der gesamten Rennstrecke an Schwimmgeschwindigkeiten erzielen. Auch nach dem Abstoß bei der Wende bzw. dem Start von unten nehmen wir derart viel Speed auf. Beim Schwimmen geht es also – egal ob auf den 50m oder den 1500m – im Grunde darum, den darauf folgenden Geschwindigkeitsabfall zu verzögern und so lange wie möglich hohe Geschwindigkeiten zu halten.
Dafür erzeugen wir durch unsere Arm- und Beinarbeit immer wieder Impulse, um den Körper in Schwimmrichtung zu bewegen. Hier greift ein weiteres physikalisches Prinzip: Das von Kraft und Gegenkraft, auch als „Actio und Reactio“ bekannt. Das uns in der Schule bereits beigebrachte Wechselwirkungsprinzip besagt, dass zwischen zwei Körpern jede Aktion gleichzeitig eine gleich große Reaktion erzeugt, die auf den Verursacher der Aktion zurückwirkt. Einfach gesagt heißt das für uns Schwimmer wir brauchen eine Möglichkeit, uns vom Wasser abzudrücken.
Nix mit hohem Ellenbogen!
Hohe Wasserlage, Doppelwellen, Wechselwirkung… Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich interessante Hinweise für die Sprinttechnik. Beim Kraulschwimmen lernen wir so zum Beispiel von klein auf, beim Armzug den Ellenbogen stehen zu lassen und die Hand am abgeknicktem Unterarm nach hinten zu ziehen. Über Wasser wiederum soll der Arm locker nach vorn gebracht werden mit dem Ellenbogen als höchstem Punkt. Schauen wir uns jetzt vor allem auf den 50m die Freistilsprinter bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen an, dann fällt direkt auf, dass die meisten von ihnen die Arme wie Windmühlenflügel gestreckt nach vorn und durchs Wasser prügeln. Der Grund ist nicht, dass sie beim Techniktraining nicht ganz aufgepasst haben, sondern dass sich diese Art zu schwimmen besser eignet, um den Körper auf kurzen Distanzen lange auf hoher Geschwindigkeit zu halten. Auch hier hilft der Blick in die Physik: Wie bereits beschrieben, bewegt sich bei hohem Speed nicht nur der Schwimmer im Becken nach vorn sondern auch das ihn umströmende und Wellen bildende Wasser. Das Problem: Versuche ich jetzt bei dieser Geschwindigkeit mit stark gebeugtem Ellenbogen den Arm nah am Körper zu ziehen, dann wird es schwer, eine zusätzlichen Impuls zu geben, da das Wasser sich dort ähnlich schnell bewegt wie der eigene Körper. Schwimmer sprechen dann davon, dass ihnen der Abdruck fehlt. Daher wird der Arm beim Sprinten deutlich gerader geführt. Damit fasst er tiefer und kann am nicht bewegten Wasser angreifen, um sich wegzudrücken. Da die Kraft so nicht nur nach hinten, sondern auch schräg nach unten wirkt, ergibt sich ein zweiter Vorteil: Um die widerstandsgünstige hohe Wasserlage aufrecht zu erhalten, macht es Sinn, immer wieder Impulse entgegen der Schwerkraft zu setzen, um den Körper nach oben zu heben.
Mit Schwung auf Sprintfrequenz
Aber auch über Wasser bleibt der Arm bei den Spitzensprintern zusehends sehr lang. Er wird nicht nur locker nach vorn geschlenkert, sondern aktiv zurückgeholt, um möglichst schnell den nächsten Armzug einleiten zu können. Denn beim Sprinten – das dürfte wenig überraschend sein – müssen hohe Frequenzen realisiert werden. Über sie können immer wieder Impulse gegen das Absinken des Körpers und für die Aufrechterhaltung der hohen Schwimmgeschwindigkeiten gesetzt werden. Bleiben diese aus, fehlen nicht nur wichtige antriebswirksame Kräfte. Sinkt der Körper nämlich etwas ab, greift der stärkere Wasserwiderstand. Ein paar Zentimeter reichen hier aus. Der Schwimmer wird dadurch abgebremst und der oben beschriebene dynamische Auftrieb nimmt ab, wodurch der Schwimmer noch tiefer eintaucht. Also: Maximal kurze Antriebspausen, hohe Frequenzen.
Dabei gilt es zu beachten, dass man sich nicht einfach so durchs Wasser wühlen darf, sondern dieses trotzdem noch richtig greifen können muss. Auch hierbei kommt es nicht nur auf die Arbeit unter Wasser an sondern auch auf den oberen Arm. Durch die aktive Rückholbewegung genau entgegengesetzt zum Zugarm bildet dieser quasi ein Schwungelement. Hier greift das Wechselwirkungsprinzip. Damit wir möglichst viel Kraft ins Wasser bringen können, wird über die Schulter und den gestreckten Arm ein Widerlager geformt. Wäre hier alles locker und flockig, würde die Kraft verpuffen und den eigenen Körper elastisch verformen. Unter anderem aus diesem Grund ist – nicht nur beim Sprinten – Körperspannung für Schwimmer von großer Bedeutung. Laut Physik-Experten ist fast die gleiche Leistung, die du als Antriebsleistung ins Wasser bringen willst, im Körper noch einmal nötig, um ein Widerlager zu bilden.
Durch die aktive Rückholbewegung mit der starken Rotation der Schulter wird diese zudem am Schwungarm komplett aus dem Wasser gehoben. Somit bietet die Schulter zum einen keine Angriffsfläche für den Wasserwiderstand. Zum anderen kann so die Hand weit nach vorn greifen und über die vordere Welle in das noch nicht vom Körper bewegte Wasser fassen. Lange Arme sind hierbei also von Vorteil. Aber: Diese windmühlenartige Technik ist äußerst anstrengend. So mancher hält das vielleicht im 50m-Sprint durch, aber für die 100m reicht es dann schon nicht mehr. Welche Art zu schwimmen am besten ist und wie stark z.B. die Ellenbogen zu beugen sind, hängt stark von den individuellen Fähigkeiten ab. Eines hilft aber in jedem Fall: Ein kräftiger Beinschlag.
Kick die Welle
Schaut man sich Spitzensprinter wie den Franzosen Florent Manaudou oder Großbritanniens Ben Proud aber auch breitschultrige Damen wie Ranomi Kromowidjojo an, könnte man zwar angesichts der muskulösen Oberkörper schnell vermuten, dass Sprinter vor allem aus den Armen heraus schwimmen. Dabei lohnt sich aber durchaus mal der Blick auf die kräftigen Oberschenkel. Denn beim Sprinten verschieben sich die Anteile, die Arm- und Beinarbeit an der Vortriebsleistung haben, deutlich in Richtung der unteren Extremitäten.
Entscheidend sind hier wieder die oben bereits beschriebenen Wellen. Während die vordere im Bereich des Kopfes durch die hohe Wasserlage relativ klein ist, bildet sich die hintere Welle im Beinbereich deutlich stärker aus. Vergleichen kann man dies mit einem Speedboot. Die Heckwelle verläuft sehr langgezogen ungefähr auf Höhe der Unterschenkel. Dies erweist sich als äußerst günstig für Schwimmer, denn bei der Ausholbewegung für den Kick kann der Fuß somit teilweise bis zum Unterschenkel aus dem Wasser herausgehen und steht sozusagen in der Luft. Damit sorgt er in der Phase, in der er keine Arbeit für den Vortrieb verrichtet, für keinen Wasserwiderstand, womit der Athlet deutlich größere Amplituden bei der Beinarbeit haben kann, als dies bei niedrigen Geschwindigkeiten möglich wäre. In der Abwärtsbewegung wiederum schlägt der Fuß von oben auf die Welle und trägt so kräftig zur Antriebsleistung bei. Da die hintere Welle bei steigenden Geschwindigkeiten vom Körper aus gesehen weiter nach hinten weg rutscht, hilft es übrigens möglichst groß zu sein, um sie voll nutzen zu können.
Surfende Schmetterlinge
Wir haben nun zwar stark auf die Freistiltechnik beim Sprinten geschaut. Die beschriebenen Effekte lassen sich aber auch in den anderen Schwimmarten bei hohen Geschwindigkeiten beobachten. Die Brust- und Schmetterlingschwimmer tauchen wie gesagt mit ihrem Oberkörper gar nicht mehr ab. Sie surfen sozusagen auf dem Wasser. Die Streckbewegung der Arme bei den Brustschwimmer erfolgt dabei sehr nah bzw. zum Teil auch über der Wasseroberfläche (Achtung: Laut Regel müssen die Ellenbogen unter Wasser bleiben). Dadurch wird ein geringer Wasserwiderstand geboten. Der Oberkörper fällt dann in der Streckung quasi von oben aufs Wasser und der nächste Armzug wird direkt eingeleitet.
Beim Schmetterlingsschwimmen ist im Vergleich zum Kraulschwimmen die Pause zwischen den Antriebsphasen der Arme länger, da ja beide Arme gleichzeitig entweder ziehen oder nach vorn gebracht werden. Um die Frequenz hoch und die antriebsunwirksamen Phasen klein zu halten, werden die Arme aktiv mit Schwung zurückgeholt. Das muss auch im Training geschult werden. Außerdem schlagen die Schmetterlinge wie die Kraulschwimmer mit den Füßen auf die hintere Welle. Die oben beschriebenen Effekte gilt es hier ebenso zu beachten und den Körper mit kräftiger Beinarbeit und gekonnter Delphinbewegung nach vorn zu kicken.
Man sieht: Nicht nur die beeindruckenden Leistungen und das einmalige Gefühl, sich im Element Wasser fortzubewegen, sind beim Schwimmen faszinierend. Auch die komplexen Vorgänge, die die Gesetze der Naturwissenschaft in unserem Sport so mit sich bringen, sorgen durchaus für überraschende Erkenntnisse. Dabei kratzen wir mit unseren Darlegungen gerade so an der Oberfläche. Viele Geheimnisse, die unser Sport mit sich bringt, wurden noch gar nicht gelüftet. Doch Stück für Stück kommt Licht ins Dunkel und für uns Schwimmer geht es nun darum, ohne Scheuklappen vor neuen Erkenntnissen das Beste aus diesen zu machen. Denn unsere Technik können wir ändern, die Physik des Schwimmens hingegen nicht.
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals in der Frühjahresausgabe 2019 des swimsportMagazine. Alle noch verfügbaren Ausgaben der Zeitschrift für den Schwimmsport können im großen swimsportMagazine-Paket bestellt werden. Zum Sonderpreis erwarten euch hier mehr als 1500 Seiten geballtes Schwimmwissen --> Das swimsportMagazine-Paket