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16. August 2024

Talentierte junge Schwimmer zu ihrem vollen Potential zu führen, ist immer ein Spagat. Reizt man im Training zu früh die Grenzen aus, winken zwar vermeintlich tolle Erfolge im Nachwuchs- und Juniorenbereich, doch beim Übergang in den Erwachsenenbereich ist dann gern mal die Luft raus. Ein Beispiel, wie dieser Spagat gelingen kann, zeigt sich an Frankreichs neuem Lieblingssportler Léon Marchand.

Die körperlichen Voraussetzungen, um einmal zu einem hervorragenden Schwimmer heranwachsen zu können, zeigten sich bei dem vierfachen Olympiasieger von Paris schon früh. Dies verwundert nicht, denn er bekam das Schwimmer-Gen quasi in die Liege gelegt. Beide Eltern waren ehemalige Mitglieder der französischen Nationalmannschaft und Olympia-Teilnehmer.

Dennoch drängten sie ihren Sohn nicht, in ihren Fußstapfen zu folgen, sondern ließen ihn sich zunächst ausprobieren. "Sie wollten mich sogar eher bremsen oder davon abbringen (mit dem Schwimmsport anzufangen). Sie wissen, dass es eine der schwierigsten Sportarten ist und dass man viele Opfer bringen muss", erklärte Marchand im zurückliegenden Jahr im interview mit L´Equipe. Judo und Rugby standen bei ihm stattdessen im Kindesalter auf dem Programm. Zwar probierte er sich auch schon im Grundschulalter im Schwimmverein in Toulouse, dem auch sein Eltern angehörten, doch weil der hagere Jüngling im kalten Wasser schnell fror, wurde diese Aktivität erst einmal hinten angestellt. 

Nach und nach zog es ihn dann aber doch in das Element, in dem sich sein Eltern so spielerisch bewegten. "Als Kind wollte Léon wahrscheinlich schwimmen, um wie Mama und Papa zu sein; danach folgte er seinen Freunden. Ohne sich selbst jemals unter Druck zu setzen, nur weil es ihn glücklich machte", erklärte so auch Nicolas Castel, der Marchand in dessen Jugend- und Juniorenzeit coachte.

Erst ungefähr mit 11 bis 12 Jahren begann Marchand regelmäßiger und zielgerichteter zu trainieren. Aufgrund seiner körperlichen Entwicklung aber, die seinen gleichaltrigen Mitschwimmer etwas hinterher hinkte, musste er bei nationalen Jahrgangsmeisterschaften und ähnlichen Wettbewerben meist der Konkurrenz den Vortritt überlassen. Mit 15 schaffte er es dann doch in sein erstes Finale bei einer französischen Jahrgangsmeisterschaft. Ein wichtiger Schritt für den ehrgeizigen Jungen. "Er erkannte, dass er es schaffen konnte, dass es nicht nur eine Frage des Körpers war, sondern des Verlangens. Von da an waren seine Fortschritte beeindruckend", erinnert sich Castel. 

Obwohl bei dem jungen Schwimmtalent nun der Knoten geplatzt schien und großes Potential erkennbar war, hielten sich Castel und auch seine Eltern bewusst zurück damit, Léons Grenzen zu sehr auszureizen. Wassertraining gab es weiterhin nur einmal pro Tag und ein großer Fokus lag auf der Entwicklung technischer Fähigkeiten. Auch sportliche Aktivitäten an Land spielten eine wichtige Rolle, um die Motorik des Jungen zu schulen.

Auch seine heutige Paradestrecke, die 400m Lagen, entdeckte Marchand erst in dieser Zeit, im Jahr 2017 für sich. Damals gelang es ihm seine Bestzeit zunächst unter die Marke von fünf Minuten zu drücken und bis zum Saisonende auf 4:46,04 Minuten zu verbessern. Durchaus schnelle Zeiten für dieses Alter, doch auch ein "normaler" Leistungsbereich, in dem im vergleichbaren Alter auch die Finalisten der Deutschen Jahrgangsmeisterschaften hierzulande schwimmen.

Doch von da an ging die Entwicklung rasant, auch weil er nun beim Größenwachstum etwas aufholte. 2018 gelang es Marchand, auch in der offenen Klasse über die 400m Lagen unter die Top Ten seines Landes vorzustoßen. Als 17-Jähriger trat Marchand 2019 dann im Juniorenbereich auch erstmals international in Erscheinung. Über die 400m Lagen gewann er Bronze zunächst bei der Junioren-EM und dann auch bei der Junioren-WM und stellte dabei einen neuen französischen Rekord auf. Auch über die 200m Lagen, 200m Brust, 200m Schmetterling und 100m Brust stand er hier im Finale. Genau jene Strecken, die ihm 2024 in Paris Olympiamedaillen einbrachten (Über die 100m Brust als Brustschwimmer in der französischen Lagenstaffel).

Kaum zu glauben: Erst jetzt steigerte sein Coach Castel die Anzahl der Trainingssessions für seinen Schützling, der nun auch mehrmals pro Tag im Wasser war. Dabei war Castel auch weiterhin stets darauf bedacht, Marchand möglichst breit zu schulen. Statt aber nun den Fokus darauf zu legen, im Juniorenbereich möglichst groß abzuräumen, ging der Blick auf die langfristige Perspektive Marchands. Die Anpassung des Trainings galt es zu verarbeiten und zunächst war dies auch mit sich nicht mehr explosiv verbessernden Leistungen verbunden. 

Der nächste große Sprung kam dann "erst" zwei Jahre später. 2021 zog Marchand erstmals die Blicke der gesamten Schwimmwelt auf sich, als er im Olympiafinale von Tokio über die 400m Lagen auf Platz sechs schwamm. Auch der Trainerlegende Bob Bowman, dem einstigen Mentor von Michael Phelps blieb dies nicht verborgen. Im Herbst 2021 wechselte Marchand in die USA, um fortan unter Bowman zu trainieren. Dieser lobte schon damals bei mehreren Gelegenheiten die auf den langfristigen Leistungsaufbau ausgerichtete Art und Weise, mit der Marchand in den Jahren zuvor von Castel am Beckenrand betreut wurde.

Die fokussierte Arbeit an weiteren technischen Aspkten wie den Delphinkicks, die schon ein Markenzeichen von Michael Phelps waren, sowie neue intensivere Trainingsreize entfesselten nun endgültig das Potential von Marchand. 2022 gab es zwei Weltmeistertitel und dann, im Jahr 2023, setzte Marchand die Fabelzeit von 4:02,50 Minuten über die 400m Lagen, mit der er den Weltrekord seines Vorbilds Michael Phelps knackte. Vergleiche mit der US-Schwimmlegende werden nicht erst seitdem immer wieder gezogen und sind für Marchand eine Ehre, wie er am Rande der Olympischen Spiele von Paris verlauten ließ. 

Doch für Superlative ist Marchand ab jetzt selbst zuständig. Egal, wo man während der zurückliegenden Wochen in Paris hinblickte: Überall waren Bilder und Videos von ihm zu sehen oder "Léon"-Sprechchöre zu hören. Die "Marchand-Mania" in der französische Hauptstadt war nicht nur eine spontane Welle der Euphorie der Gastgeber bei den Spielen im eigenen Land, sondern tatsächlich auch ein Ausdruck der Außergewöhlichkeit dieser Leistung, die Marchand mit seinen vier Goldmedaillen erbracht hatte. 

Ein Ergebnis, das auch deswegen zustande kam, weil bei Marchand die richtigen Reize zum richtigen Zeitpunkt gesetzt wurden, er die Liebe zum Schwimmen nie verlor und sein Umfeld stets den Blick auf seine langfristige Entwicklung hatte. Und so soll es für ihn nun auch weitergehen. Mit 22 Jahren hat Marchand eine glänzende Perspektive, um die Schwimmwelt auch weiterhin zum Staunen zu bringen. Und mit Bob Bowman einen Coach an seiner Seite, der genau weiß, wo nun an den nächsten Stellschrauben zu drehen ist.

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Bild: IMAGO / Insidefoto