Der undankbare vierte Platz. Die Holzmedaille. In der Öffentlichkeit werden vierte Plätze oftmals als eine ärgerliche Niederlage wahrgenommen, dabei sind es in der Realität meist nur wenige Hundertstelsekunden oder Zentimeter, die die Athleten vom begehrten Edelmetall trennen. Die sportlichen Leistungen sind deshalb nicht minder beeindruckend. Das jahrelange, intensive Training schlichtweg das Gleiche.
Dass vierte Plätze natürlich dennoch weh tun und eine große Enttäuschung hervorrufen können, erlebte zuletzt auch Angelina Köhler bei den Olympischen Spielen in Paris. Als amtierende Weltmeisterin an den Start gegangen, kämpfte sich die Wahl-Berlinerin über die 100m Schmetterling Runde für Runde weiter, verbesserte stets ihre Zeiten und landete im Finale schlussendlich auf dem vierten Platz. Zur Bronzemedaille fehlten lediglich 21 Hundertstelsekunden.
Unmittelbar nach dem Rennen flossen bei der deutschen Hoffnungsträgerin kräftig die Tränen über die verpasste Medaille - und das obwohl der vierte Platz bei ihrer Olympiapremiere zweifellos einen eindrucksvollen Erfolg darstellt. Insbesondere auch deshalb, da Köhler die Qualifikation für Tokio aufgrund eine Corona Infektion verpasst hatte.
Einige Tage nach dem olympischen Finale hatten wir die Gelegenheit mit Angelina Köhler über ihre Leistungen in Paris zu sprechen, ihre Emotionen einzuordnen und gemeinsam einen Blick voraus auf die nächsten Olympischen Spiele in Los Angeles zu werfen. "Es ist alles noch sehr emotional. Alle, die einmal Leistungssport gemacht haben, wissen, dass man immer mit dem Ziel zu gewinnen antritt und in erster Linie um die Medaillen kämpft", reflektierte die 23-Jährige bei einem Event ihres Sponsoren Speedo in Paris. Der vierte Platz bei Olympia ist deshalb stets mit einem bitteren Beigeschmack verbunden, auch wenn es nüchtern betrachtet ein herausragende Leistung ist, zu den Top Vier der Welt zu gehören.
Dennoch vermutet Köhler, dass sie der vierte Platz emotional noch eine Weile begleiten wird. So wurde ihr beispielsweise eine offizielle Urkunde ausgestellt, auf der eben diese Platzierung hervorgehoben wird. Ob die Urkunde einen festen Platz an der Wand der Schmetterlingsspezialistin finden wird, steht noch nicht fest, denn so kurz nach dem entscheidenden Wettkampf überwiegt noch die Enttäuschung, obwohl sich der Stolz so langsam immer mehr in den Vordergrund schiebt.
"Man denkt sich ab und zu, da hätte ich auch stehen können."
Die emotionale Achterbahnfahrt wird auch dadurch verstärkt, dass mit Lukas Märtens, Isabel Gose und Oliver Klemet gleich drei Teamkollegen aus der deutschen Schwimmmannschaft über gewonnenes Edelmetall jubeln durften. "Die Medaillen der Magdeburger zählen definitiv zu meinen olympischen Highlights und ich freue mich riesig mit ihnen. Dennoch denkt man sich ab und zu: Da hätte ich auch stehen können. Viel hat zu meiner eigenen Medaille ja nicht gefehlt", gibt Angelina Köhler ehrlich zu erkennen.
Positive Zuwendung und Unterstützung bekam die Sportlerin der SG Neukölln insbesondere durch den engen Kontakt zu anderen Aktiven, die mit ähnlichen sportliche Schicksalen umgehen mussten. Besonders berührt habe sie eine Nachricht von Philip Heintz, der von seinen eigenen Erfahrungen im Nachgang an seinen vierten Platz bei den Weltmeisterschaften 2019 berichtete und Köhler Kraft und Mut spenden konnte: "Die Nachricht hat komplett widergespiegelt wie ich mich gefühlt habe und das hat mir extrem geholfen, mit meinen Emotionen klar zu kommen". Auch aus der Öffentlichkeit bekam die erste deutsche Schwimmweltmeisterin seit 2009 sehr viel positiven Zuspruch. Dies sei besonders wirkungsvoll gewesen, da Angelina Köhler zuletzt oft negativen Kommentaren ausgesetzt war, nachdem sie offen über ihre ADHS-Diagnose sprach.
"Ich werde nochmal die Chance haben, es ist noch nichts vorbei."
Nach den intensiven Wettkampftagen bei Olympia heißt es jetzt zunächst ausruhen und das Erlebte weiter verarbeiten, um dann mit neuer Kraft und Motivation in den nächsten olympischen Zyklus zu starten. Während der verbliebenen Zeit in Paris wurde das ewige Kachelnzählen neben Medienterminen von einem Besuch im Disneyland, Shoppingtrips und Feiern gehen ersetzt - ein wohlverdienter Ausgleich zu dem Trainingsmarathon der letzten Monate.
Dennoch wird bereits jetzt der Blick äußerst fokussiert auf die Olympischen Spiele von Los Angeles gerichtet. "Ich werde nochmal die Chance haben, es ist noch nichts vorbei", so Köhler. "In Paris habe ich mir selbst sehr viel Druck gemacht, in Los Angeles werde ich anders an die Wettkämpfe ran gehen", blickt sie ehrgeizig voraus. "Jetzt habe ich alles einmal durchgespielt, weiß wie der Hase läuft und kann beim nächsten Mal besser vorbereiten voll angreifen". Dazu gehöre auch, den olympischen Flair im Ganzen noch mehr zu genießen und den Moment, für den man ein ganzes Leben trainiert, voll auszukosten. Denn in Paris sei dieser Moment Angelina Köhler aufgrund der unzähligen neuen Eindrücke ein wenig durch die Hand geglitten.
Nichtsdestotrotz erfüllte sich mit der Olympiateilnahme ein großer Kindheitstraum für Angelina Köhler. Am Ende des Sommers soll noch ein Zweiter hinzukommen, denn es steht ein Segeltrip in der Südsee bevor. Und spätestens auf einem Boot am anderen Ende der Welt werden die freudigen Emotionen von Paris sicherlich überwiegen.
Bild: Speedo