Videotipp
03. Mai 2022

Der folgende Artikel erschien erstmals im swimsportMagazine Nr. 29 - Aufgrund der Bedeutung des Themas für viele unserer Leser veröffentlichen wir ihn hier noch einmal in voller Länge:

Was man anfängt, sollte man auch zu Ende bringen, so sagt man im Allgemeinen. Eine Aussage, die von Ehrgeiz und Zielstrebigkeit zeugt. Tugenden, die Schwimmer in jedem Fall besitzen sollten, denn in unserem Sport bekommt man weder Wassergefühl noch eine gute Schmetterling-Technik einfach geschenkt. Doch wenn man mit dem Schwimmen anfängt, wo ist dann das besagte Ende? Der Meistertitel, die eine Bestzeit, der Sportschul-Abschluss? Oder gibt es vielleicht überhaupt kein wirkliches Ende? So gut wie jeder Leistungssportler hatte in der aktiven Laufbahn schon einmal den Gedanken, die Schwimmbrille an den Nagel zu hängen. Doch mit dem Schwimmen einfach aufzuhören ist keine Entscheidung, die man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Schwimmen ist Teil unseres Lebens. Was ist man dann noch, wenn dieser Teil auf einmal auf dem Trockenen liegt?

Es war spielend leicht, es war eine Qual. Es war aufregend und es war langweilig. Vor allem aber war es meine Leidenschaft für viele Jahre: Das Schwimmen. Als ich mit fünf Jahren mit diesem Sport begann, hätte ich mir nie träumen können, dass er mich einmal so lang und so intensiv begleiten würde. Es fing an mit einem Brustzug, bei dem ich zum ersten Mal unter Wasser ausatmete und endete mit einem vierten Platz bei den Deutschen Meisterschaften. Für ersteres brauchte ich lediglich ein bisschen Mut, für letzteres 17 Jahre Training.

Der Schwimmsport gibt einem unfassbar viel, vor allem Erinnerungen. Ich denke gern an die zahlreichen Wettkampffahrten und Trainingslager mit der Trainingsgruppe zurück. Es war lustig, wenn sich in der Uni plötzlich jemand umgedreht hat, weil es auf einmal im Hörsaal nach Chlor roch. Ich erinnere mich aber auch gern an die Zeit im Internat oder die Nächte, nach denen man müde noch halb torkelnd morgens ins Wasser gesprungen ist. Nüchtern betrachtet haben mir die Jahre im Leistungssport sehr viel gegeben.

Doch Anfang 2020 wollte ich einfach nicht mehr weitermachen wie bisher. Mir tat der stetige Vergleich mit anderen und mir selbst im Becken nicht mehr gut. Was mit etwas Mut einst begann, hörte mit Mut auch wieder auf. Denn ich habe mir die Entscheidung alles andere als leicht gemacht. Mein Ziel war es immer, eine Medaille bei einer Deutschen Meisterschaft zu erschwimmen. Eher konnte ich nicht aufhören, so war mein Gedanke. Was wäre das auch für ein Ende mit einem vierten Platz? Vier… Als Note ist sie ausreichend, aber ist das ein befriedigender Schlusspunkt einer Karriere? Für die meisten nicht. Für mich ebenso wenig. Eigentlich. Denn trotzdem kann ich sehr zufrieden auf meine Jahre als Leistungsschwimmer blicken. Natürlich wollte ich früher auch gern zu den Olympischen Spielen. Doch wie so viele musste auch ich irgendwann einsehen, dass die einzigen Ringe, unter denen ich jemals auflaufen kann, die über der Tür des Audi-Autohauses sind.

Ich war ein guter Schwimmer, jedoch reichte mein Talent einfach nicht für internationale Höhenflüge. Doch das ist auch nicht unbedingt das, worum es im Leistungs- und Wettkampfsport geht. Es geht vielmehr um seine individuellen Maßstäbe. Für den einen ist die Minutenmarke auf 100m Freistil das Highlight des Schwimmerlebens, für die andere der Deutsche Meistertitel. Beide können ebenso leidenschaftlich darauf hintrainiert haben und ebenso viel Freude dabei empfinden. Was zählt ist, wie wichtig einem selbst das ist woran man arbeitet. Die zahllosen Stunden im Wasser oder an den Eisen des Kraftraums lassen sich schließlich nicht allein durch die Mahlzeiten danach aufwiegen. Es gibt kaum etwas Schöneres, als nach einem geilen Rennen an die Anzeigetafel zu schauen und erhobenem Hauptes aus dem Becken zu steigen. All die Qualen des Trainings rücken in den Hintergrund nach einem tollen Rennen. Doch hält das meist leider nicht sehr lang. Für mich war Schwimmen derart in den Alltag integriert, dass ich gern mal mein Ziel aus den Augen verlor. Nach einiger Zeit erkannte ich, dass ich mich zunehmend mehr dem Prozess des Trainings verschrieben habe und immer weniger dem dahinter stehenden Ziel. Das verlor ich immer häufiger aus den Augen und andere Dinge wurden für mich zunehmend wichtiger. Nach dem Abi schwamm ich neben der Uni weiter - mit Vollgas. Das Studium baute sich um das Training auf, nicht umgekehrt. Mit der Zeit jedoch war der Sport an sich und die Leute, die er mir schenkte, ein größerer Wert, als das, was mir eine Medaille jemals hätte geben können. Ich schämte ich mich zunehmend vor mir selbst, warum ich zehnmal in der Woche ins Wasser springe und das alles mehr tue, für das bloße Sein eines Schwimmers. Was bringt einem der Sport? Was könnte man mit all der Zeit sonst anfangen? Findet man überhaupt noch etwas, das einen ähnlich erfüllt? Fragen, die sich wohl jeder Schwimmer schon das eine oder andere mal gestellt hat. Es ist essenziell zu verstehen, dass diese Fragen normal sind und zu einem Leben als Sportler dazu gehören. Im Gegenteil, es wäre bedenklicher, wenn man sich diese Fragen nie stellen würde.

Doch man muss damit nicht allein dastehen. Es ist wichtig, über Bedenken offen mit seinen Freunden, Verwandten aber vor allem mit seinem Coach zu sprechen. Im Prozess des Redens wird man sich klarer über seine Gedanken und das, was einen wirklich umtreibt. Leider haben viele besonders gegenüber ihren Trainern Angst, gewisse Gedanken offen zu kommunizieren. Doch gerade das schafft eine so wichtige Grundlage für eine erwachsene Zusammenarbeit zwischen Trainer und Sportler und kann dabei helfen, einem zu frühen Karriere-Aus vorzubeugen. Da zu einem Gespräch immer zwei Personen gehören, sind auch die Coaches dazu angehalten, ihre Sportler ernst zu nehmen und die Bedenken nicht sofort als Flausen abzutun. Oft reicht das bloße und ehrliche Zuhören bereits aus, damit es dem Sportler anschließend besser geht.

Das Aufschreiben der eigenen Gedanken kann ebenfalls helfen, zu erkennen, welche Dinge für einen zu dem Zeitpunkt mehr zählen und was man verlieren würde, wenn man dem Leistungssport den Rücken kehrt. Es sind oft Verlustängste, die Schwimmer am Ball bleiben lassen. Denn was ist man schließlich noch ohne Chlor im Haar? Diese Angst führt jedoch eher dazu, dass man seinen Sport aus falschen Beweggründen macht. Etwas statt aus eigener Freude nur zu tun, weil man es schon immer so getan hat, ist nicht die Motivation, die einen auf große Podeste hebt. Viele haben auch extremen Spaß am Schwimmen, gestehen sich jedoch nicht ein, dass das Vergleichen mit anderen bei Wettkämpfen nichts für sie ist. Das ist ebenso zu respektieren, wie Sportler, die es lieben gegen andere zu racen, aber oft gern aufs Training verzichten würden.

Häufig kommt einem der Gedanke ans Aufhören aber auch gar nicht aus tieferen Überzeugungen. Es ist extrem wichtig zu erkennen, warum man eigentlich schlecht gelaunt ist, wenn man auf den Startblock steigt. Besonders in den kalten Wintermonaten, wo man Vitamin D lediglich in der Apotheke bekommt, sollte man externe Faktoren nicht unterschätzen. Im Winter hat man tendenziell weniger Energie und Motivation für alles. Zudem kann sich Stress auf Arbeit oder in der Familie negativ auf die Leistung und die Freude im Pool auswirken. Statt das Training als Belastung zu sehen, kann es oft schon helfen, es eher als eine willkommene Ausflucht vor Problemen zu betrachten. Diesen Tipp gab mir mein Trainer während meiner Abi-Prüfungsphase. In dieser Zeit hatte ich alles andere als Spaß am Schwimmen, doch half mir diese Sichtweise, mir wieder deutlich lieber meine Badehose anzuziehen.

Bevor man seinen Nagel für die Schwimmbrille aus dem Keller holt, sollte man zudem bedenken, dass nicht jede schwere Zeit sofort das Karriereende bedeuten muss. Gerade aktuell sieht man, dass man flexibler mit seiner Zeit umgehen sollte und es manchmal gut sein kann, Abwechslung in festgewachsene Strukturen zu bringen. Nun kann man Schwimmen schlecht im Homeoffice betreiben, doch können schon neue Inhalte im Wasser, ein anderes Athletiktraining oder eine Phase mit weniger Training die Welt ganz anders aussehen lassen. Will man einen größeren Tapetenwechsel, kann man sich zudem überlegen, ob man sich vorstellen könnte, seiner Leidenschaft auch in einer anderen Stadt nachzugehen. Was außerdem gern außer Acht gelassen wird: Die Entscheidung, mit dem Schwimmen aufzuhören, muss nicht endgültig sein. Eine gewisse Zeit außerhalb des Wassers lässt einem oft klar werden, was wirklich wichtig ist. Zahlreiche Beispiele aus der Profiwelt zeigen, dass man trotz einer Pause von zum Teil mehreren Jahren wieder Top-Leistungen erzielen kann. Es gibt abschließend zudem einen weiteren großen Punkt, den man nicht vergessen sollte. Man ist Schwimmer und wird es auch immer bleiben. Der Sport ist nicht plötzlich weg. Im Freibad wird man nicht vom 5m-Turm springen und nach dem Auftauchen plötzlich aussehen wie die Titanic in Bermuda Shorts. Jemand, der sich nach drei Jahren Abstinenz mal wieder in die Schwimmhalle traut, ist ebenso ein Schwimmer, wie jemand, der nun lieber als Coach am Beckenrand steht. Man könnte es auch so formulieren: Du bekommst das Kind aus der Schwimmhalle, aber nicht die Schwimmhalle aus dem Kind.

Dieser Artikel erschien erstmals im swimsportMagazine Nr. 29 - Wer keine Ausgabe unserer Zeitschrift von Schwimmern für Schwimmer mehr verpassen möchte, sollte sich unser praktisches Abo zulegen. Nur noch BIS SONNTAG gibt es zu jedem neuen Abo zudem eine GRATIS Schwimmer-Halskette. Klickt euch einfach rein auf www.swimsport-abo.de