(23.08.2021) In London 2012 war Elena Krawzow noch das Küken – und gewann Silber. In Rio 2016 wollte die Para Schwimmerin Gold holen – und erlebte mit Platz fünf eine große Enttäuschung und die erste richtige Niederlage ihrer Karriere. Die 27-Jährige kämpfte sich zurück in die Erfolgsspur, doch ihr Weg in 2021 ist bislang steinig. Trotzdem will sie im schwersten Jahr ihrer Karriere in Tokio Bestzeiten schwimmen. Und eine Medaille gewinnen.
„2018/19 war meine beste Saison bisher“, sagt Elena Krawzow kurz vor den Paralympischen Spielen zurückblickend. Damals holte die Berlinerin, die von Phillip Semechin trainiert wird, nicht nur den WM-Titel über die 100m Brust sondern drückte auch den Weltrekord auf 1:12,60 Minuten, eine Bestmarke, die bis heute in der Startklasse SB12 Bestand hat. Krawzow war in Topform und ideal auf die Paralympics 2020 in Tokio vorbereitet. Dann kam Corona, Lockdown, die Spiele wurden verschoben. „Ich war dann erst mal richtig platt: Vor allem mental war das eine sehr große Herausforderung“, sagt Krawzow, die erst wieder verinnerlichen musste, „wofür ich trainiere.“ Ihre aktuelle Saison sieht die ehrgeizige Athletin als „nicht so zufriedenstellend, wie ich mir das vorstelle“ an. Im Februar erhielt die sehbehinderte Schwimmerin mit dem Morbus Stargardt – das Zentrum der Netzhaut (Makula) ist degeneriert – dann die Diagnose, dass ihre Augen noch mehr an Sehkraft verloren haben. „Das hatte ich schon erwartet, man merkt das ja im Alltag“, sagt Krawzow, die das „annehmen muss, wie es ist. Aber ich bin froh, dass ich noch ein bisschen sehen kann.“
Widerspruch: Krawzows Sehkraft nimmt ab, sie startet aber fortan bei besser Sehenden
„Das schwerste Jahr meiner Karriere“, so bezeichnet Krawzow 2021, denn für die in Kasachstan geborene Athletin kam neben der Diagnose noch der nächste Nackenschlag hinzu: Bei der Klassifizierung wurde Krawzow von der Startklasse 12 in die Startklasse 13 versetzt – obwohl sie laut Diagnose schlechter sieht, schwimmt sie nun gegen vermeintlich besser sehende Konkurrentinnen. „Das ist schon ein Widerspruch, den man erst mal verkraften muss“, sagt Ute Schinkitz, die Bundestrainerin des deutschen Para Schwimm-Teams. „Das habe ich gar nicht verstanden“, erzählt Krawzow, die aber „keine Lust zu streiten oder zu protestieren“ hatte. Zudem ist es bei der Klassifizierung von Krawzow zu keinem Fehler gekommen. „Es ist ein ewiges Hin und Her bei allen Athleten: Mal schwimmt man in der Startklasse 12, dann wieder in der 13. Wir sind alle schon gegeneinander geschwommen.“ Es gibt eigentlich klare Grenzwerte für die einzelnen Startklassen. Bei Sehbehinderten ist es aber nicht unbedeutend, wie hell oder dunkel es beispielsweise in einem Raum ist. Auch die Uhrzeit, ob früh oder abends, kann bei einer Klassifizierung einen großen Unterschied machen. „Es sollte nur noch zwei Klassen für Schwimmer mit Sehbehinderung geben“, sagt Ute Schinkitz – und nicht wie aktuell drei (S11, S12 und S13). Ein Vorschlag, der Krawzow gefällt: „Die Leistungsdichte wäre dann noch größer, es würde mehr Action geben.“
In Tokio wird es dazu noch nicht kommen, es wird drei Startklassen für Athletinnen und Athleten mit Sehbehinderung geben. Elena Krawzow wird in der Startklasse 13 antreten. Dass sie auch dort gut zurechtkommt, bewies sie erst im Mai dieses Jahres: Damals schnappte sie sich in der SB13 über 100m Brust Gold bei den Europameisterschaften auf Madeira. Krawzow krönte sich auf ihrer Paradestrecke nun schon vier Mal zur Europameisterin (2014, 2016, 2018 und 2021) und zwei Mal zur Weltmeisterin (2013 und 2019). Am 1. September gegen 10.40 Uhr Ortszeit (3.40 Uhr deutscher Zeit) stehen bei den Paralympics die Vorläufe über 100m Brust in der Startklasse SB13 an. Außerdem geht die gelernte Physiotherapeutin drei Tage zuvor noch über die 50m Freistil an den Start (29. August, 10.21 Uhr/3.21 Uhr). Dabei geht es vor allem darum, die Abläufe des paralympischen Wettkampfes vor Ort schon einmal mitgemacht zu haben und zu verinnerlichen. „Die Leistungsdichte bei den 50 Metern Kraul ist sehr groß, aktuell bin ich Achte in der Weltrangliste“, sagt Krawzow, die sich auf den Start in ihrer Nebenstrecke sehr freut.
Erfahrungen haben Krawzow gestärkt - auch ihre „Niederlage“ 2016 in Rio
Für die Para Schwimmerin werden die Paralympics in Tokio bereits die dritten Spiele sein. „In London war ich noch das Küken, jetzt bin ich schon eine der ältesten hier im Team“, sagt Krawzow, die 2012 als 18-Jährige Silber über die 100m Brust gewann. 2016, in Rio de Janeiro, wurde die Berlinerin nur Fünfte. „Da war ich krass enttäuscht, das war die erste richtige Niederlage in meiner Karriere – damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet“, sagt Krawzow. „Ich hätte um eine Medaille kämpfen können, aber ich habe es am Tag X nicht geschafft, meine Bestleistung abzurufen.“ Daraus habe sie viel gelernt, die Erfahrung habe sie rückblickend sogar gestärkt.
Krawzows Vorfreude auf die Spiele in Tokio stieg im Trainingslager in Belek, das die Schwimmerin schon als ihre zweite Heimat bezeichnet: „Die Paralympics sind speziell. Meine Erfahrung hilft mir sehr vor den Spielen“, sagt die gebürtige Kasachin, für die ihr Alter auch eine große Rolle spielt: „Wenn du älter bist, lernst du sehr viel über deinen Körper.“ Dinge, wie zum Beispiel mentales Training, lerne man eben einfach erst später. „Ich bin aktuell im besten Alter“, sagt die 27-Jahre alte Berlinerin. Von ihren Erfahrungen gibt Krawzow viel an die jüngeren Athletinnen und Athleten weiter. „Es sind ja alle noch ziemlich jung und erleben jetzt erst ihre ersten Paralympics: Klar sind sie etwas aufgeregt und fragen nach – aber ich stehe ihnen immer gerne zur Verfügung gebe Tipps.“
Dass in Tokio keine Zuschauer sein werden, findet die Para Schwimmerin „sehr schade. Wenn du die tausenden Menschen hörst, ist das einfach ein unglaublicher Gänsehaut-Moment“, berichtet Krawzow von ihren Erfahrungen 2012 und 2016. Sie könne sich aber auch ohne Zuschauer gut fokussieren und ist „froh, wenn ich nach fünf Jahren Arbeit endlich meine Leistung zeigen kann.“ Ihr Ziel für Tokio? „Ich will wieder gut schwimmen und meine Bestleistungen unterbieten.“ Schafft die Berlinerin das, dann stehen die Chancen auf eine Medaille sehr gut. „Ich hoffe, dass sich Elena am 1. September selbst belohnt“, sagt Bundestrainerin Schinkitz. Es wäre nach einem sehr turbulenten und kräftezehrenden Jahr mehr als verdient.
Text: DBS / Patrick Dirrigl
Bild: Ralf Kuckuck / DBS